Stuttgart – 4. October 2010

Rede auf Demonstration gegen Stuttgart 21

Am Wochenende haben wir das erfolgreiche Ende einer gewaltfreien Volksbewegung in Mittel und Osteuropa gefeiert, die Deutsche Einheit.
Der selbstbewusste Ruf „Wir sind das Volk“ hallt bis heute fort und wurde in allen Samstags- und Sonntagsreden stolz zitiert.
Und hier in Stuttgart?? Hier kämpft der Staat gegen sein Volk. Hier werden Junge und Alte auf Geheiß der Landesregierung mit Wasserwerfern und Pfefferspray bekämpft, weil sie diesen Aufruf ernst nehmen und demonstrieren.
Soll das so während der ganzen, langen Bauzeit weitergehen?

Demokratie ist unteilbar! Alle haben das Recht auf Fragen, darauf, eine andere Meinung zu haben und das deutlich zu zeigen.
Sie haben das Recht, nicht diffamiert sondern ernst genommen zu werden!

Wer meint, gegen einen Bahnhofsbau gäbe es kein Widerstandsrecht, wie das Bahnchef Grube sagt, der hat Demokratie nicht verstanden!
Die ist nämlich keine Staatsform für Zuschauer sondern für Mitmacher, wie Joachim Gauck das ausgedrückt hat!
Demokratie bedeutet, Uneinigkeit ohne Gewalt auszuhalten!

Auch wenn die Entscheidung für Stuttgart 21 unbestreitbar durch alle demokratischen Instanzen gegangen ist, kann sie von Bürgerinnen und Bürgern heute kritisch gesehen werden, denn sie müssen das Projekt mit ihren Steuergeldern zahlen!
Denn das Geld, das von Bund, Land und Stadt – auch das der Deutschen Bahn – kommt von ihnen.
Eine Demokratie fordert Transparenz – mit Recht!
Wir fordern, dass alle Gutachten, die heutige Wirtschaftlichkeitsberechnung, vor allem aber die aktuelle Kostenschätzung öffentlich werden.
Nur so kann man feststellen, ob ein Projekt dieser Größenordnung heute noch unterstützenswert, vor allem aber finanzierbar ist.
Denn es ist auch bei einem beschlossenen Projekt ein Unterschied, ob es 2,8 oder 5,3 Mrd. € kostet, wie das der Bundesrechnungshof nach seiner aktuellen Schätzung anmahnt. Dazu kommt die Bahnstrecke nach Ulm, deren Kosten derzeit selbst von der Bahn auf 2,9 statt auf ursprünglich 2 Mrd geschätzt werden.
Insgesamt reden wir im Augenblick also statt über 4,8 Mrd. schon über € 8,2 Mrd., was aber noch lange nicht der endgültige Betrag sein muss bei der langen Bauzeit!

Können Sie sich 8 Mrd vorstellen?
Das sind über 4 Mio € für jedes einzelne Jahr seit Christi Geburt, nur um Ihnen die Größenordnung einmal vor Augen zu führen!

Eigentlich müssten eine Landes-, eine Bundesregierung, eine DB und ein Gemeinderat unter diesen veränderten Umständen selbst die Entscheidung noch einmal überprüfen. Über diese Größenordnung ist nicht demokratisch entschieden  worden, vor allem nicht nach der Finanzkrise, die alle öffentlichen Haushalte in Turbulenzen gebracht hat. Die Öffentlichkeit hat das Recht hier Mitwirkung einzufordern, nachdem die Verantwortlichen dazu ganz offenkundig nicht bereit sind.

Die einzige Möglichkeit ist also ein Volksentscheid!

Wir alle wollen mit entscheiden, ob Mittel in dieser Höhe wirklich für eine zentrale Maßnahme der Stadtentwicklung in Stuttgart, einen Bahnhofsneubau, eine Neubaustrecke und eine mögliche Fahrzeitverkürzung von Minuten ausgegeben werden sollen. Wir wollen mit entscheiden, ob dieses Geld für eine solche, zentrale Großmaßnahme ausgegeben wird.

Alternativ, bzw. mit erheblich weniger Geld könnten damit viele Unzulänglichkeiten im Fern-, Regional- und Nahverkehr, auf unendlich vielen Bahnhöfen in Baden-Württemberg beseitigt und vieles mehr finanziert werden. Ein Quantensprung in der Qualität des öffentlichen Verkehrsangebots könnte erreicht werden – sicher auch eine sinnvolle Optimierung dieses Kopfbahnhofs und eine die Bevölkerung entlastende Neubaustrecke nach Ulm.

Noch eine kurze Bemerkung zu diesem denkmalgeschützten Kopfbahnhof: Als ständige Nutzerin dieses Bahnhofs, als Ziel oder zum Umsteigen seit mindestens 30 Jahren, kann ich nur sagen: wenn ich Verspätungen hatte, lagen die nicht am nötigen Richtungswechsel sondern an technischen, an Strecken- oder Wetterproblemen.
Im Gegenteil: der Kopfbahnhof ermöglichte mit seinen vielen Gleisen das Aufholen von Verspätungen!

Wir befinden uns sowieso in guter Gesellschaft mit München, Frankfurt oder Paris u.v.m. – so viel zum Anschluss an internationale Standards.
Kopfbahnhöfe erleichtern übrigens auch die Orientierung erheblich, in einer mobilen Gesellschaft im demographischen Wandel ein ernst zu nehmendes Argument!

Welche Schritte sind nun nötig, um einerseits die drohende weitere Eskalation der Auseinandersetzung zu verhindern und andererseits zu einer guten Entscheidung zu kommen?

  1. die Vertreter von Stadt und Land müssen die Verantwortung für ihre gesamte Gesellschaft wieder ernst nehmen – nicht nur auf ihre Wähler achten!
  2. sofortiger Baustopp, denn nur so kann Vertrauen wieder aufgebaut werden
  3. Einrichtung eines runden Tisches, Vorlage aller vorhandenen Gutachten, Veröffentlichung aller Fakten zur Vorbereitung eines Volksentscheides, denn nur mit wirklicher Information kann eine verantwortungsbewusste Entscheidung getroffen werden
  4. Durchführung eines Volksentscheides

Wer den Volksentscheid will, sichert die Demokratie und verhindert ein Abwenden der Menschen von der Politik!

Wer den Volksentscheid unterstützt, bekennt auch, dass kein Mensch unfehlbar ist und jede/r das Recht auf bessere Einsicht hat – auch mancher in der SPD!

Auch wenn das Ergebnis eines Volksentscheids natürlich offen ist, hoffe ich doch darauf, dass die Ereignisse hier und die Zahlen viele zu solcher Einsicht bewegen.